@phdthesis{Knor2022, author = {Stefan W. Knor}, title = {Das Piet{\`a}-Projekt \"Getragen im Leid\" : eine Piet{\`a}-Skulptur als Medium {\"a}sthetischer und religi{\"o}ser Erfahrung}, url = {https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0295-opus4-25417}, pages = {272 S.}, year = {2022}, abstract = {Nach fast zehn Jahren Piet{\`a}-Projektzeit „Getragen im Leid“, einer Dekade voller unterschied- licher Begegnungen, Erfahrungen und Erlebnissen in verschiedenen europ{\"a}ischen L{\"a}ndern und Sakralr{\"a}umen, stellt diese Arbeit den Versuch eines Res{\"u}mees dar. Was mit einem Zufallsfund in M{\"u}nchen auf dem Dachboden der St. Paulkirche begann, hat eine ungeahnte und ungeplante Eigendynamik entwickelt und motiviert, die Piet{\`a}-Skulptur im Zentrum eines im Rahmen der Pr{\"a}sentationen jeweils spezifischen syn{\"a}sthetischen Erfahrungsraums als Medium {\"a}sthetischer und religi{\"o}ser Erfahrung genauer in den Blick zu nehmen. Dass gerade auch Werke der Kunst Orte darstellen k{\"o}nnen, an denen besondere {\"a}sthetische wie auch religi{\"o}se Erfahrungen gemacht werden k{\"o}nnen, dokumentieren die zahllosen R{\"u}ckmel- dungen sowohl schriftlicher Art als auch die R{\"u}ckmeldungen im Rahmen vieler pers{\"o}nlicher Gespr{\"a}che, die Zeugnis ablegen von der intensiven religi{\"o}s-auratischen Ausstrahlung der Piet{\`a}- Skulptur. Das Piet{\`a}-Projekt dokumentiert, dass Kunst „nach wie vor beeindrucken [...], Ergriffenheit, emotionale Tiefe beim Wahrnehmen hervorrufen [kann] und [...] dabei in der Lage [ist], reli- gi{\"o}se oder religioeske Gef{\"u}hle zu beeinflussen, zu generieren oder zu transportieren. Allgemei- ner: Dem Kunstwerk gelingt es h{\"a}ufig und immer noch, Stimmungen, Atmosph{\"a}re zu erzeugen und damit ein Thema zu emotionalisieren und jenseits bzw. zuz{\"u}glich kognitiver Verarbei- tungsprozesse affektiv zu informieren. Kunst vermag religi{\"o}se Gef{\"u}hle, z.B. der Ersch{\"u}tterung, des Ergriffenseins, des pers{\"o}nlichen Angesprochenseins, vielleicht gar des Erl{\"o}stseins zu ent- wickeln [...].“367 Weil es zugleich die Sinnlichkeit von Menschen und Religion betonte, bot das Piet{\`a}-Projekt auch die M{\"o}glichkeit, die religi{\"o}se Erfahrungsf{\"a}higkeit zu schulen im Wissen, dass derjenige der „dazu anleiten m{\"o}chte, sich mit Sinnfragen zu besch{\"a}ftigen, [...] dies nicht sinnenlos tun [darf]. Es kommt darauf an, m{\"o}glichst alle Sinne des Menschen anzusprechen und sp{\"u}rbar zu machen, was meist nur vom H{\"o}ren-Sagen kommt (vgl. R{\"o}m 10,17)“.368 Hans Joachim H{\"o}hn hat darauf hingewiesen, dass „[g]enau dies aber [...] einen wunden Punkt in Theologie und Kirche [markiert]. Denn viel von der Attraktivit{\"a}tsschw{\"a}che des kirchlichen Christentums re- sultiert aus seinem Versagen, eine {\"u}berzeugende Alternative zu seiner dogmatischen und mo- ralischen Selbstdarstellung zu entwickeln. Seinen {\"o}ffentlichen Geltungsverlust sucht man in der Regel durch das auszugleichen, was ihn mitverursacht hat: die Dogmatisierung und Mora- lisierung des Glaubens. Die Kirche erh{\"o}ht innerhalb dieser Alternative entweder nach innen das Pensum des dogmatischen Glaubenswissens oder sie hofft nach au{\"s}en auf eine h{\"o}here ge- sellschaftliche Akzeptanz {\"u}ber Memoranden, Denkschriften und Moralpredigten, mit der sie dem ethischen Orientierungsbedarf der Gegenwart entgegenkommen will. Das eine ist in seinen Grenzen so sinnvoll wie das andere, jedes einzelne f{\"u}r sich und beide zusammen aber bewirken wenig ohne ein Drittes: die {\"A}sthetik des Glaubens, die ihn ‚sinnenf{\"a}llig‘ macht. Der Glaube kann nur dann einen ‚sensus‘ f{\"u}r eine andere oder bessere Welt wecken, wenn er zu einer Hal- tung f{\"u}hrt, durch die man in dieser Welt ganz und bei allen Sinnen ist.“369 „Was sich im {\"a}sthetischen Erleben und Tun zeigt“, dies verdeutlicht das Piet{\`a}-Projekt in exemplarischer Weise, „erweist sich als {\"U}berschuss {\"u}ber blo{\"s} empirische Erfahrungsgehalte. [...] Im {\"a}sthetischen Erleben kommt es zur {\"U}berschreitung der Grenzen blo{\"s}er Dinglich- keit.“370 Dass Piet{\`a}-Darstellungen ungeachtet des historischen Kontextes, in dem sie entstanden sind, bis in unsere Tage an Aktualit{\"a}t nichts eingeb{\"u}{\"s}t haben, immer noch „an-sprechen“, liegt wohl auch daran, dass sich dem Betrachter das mit dieser Figurengruppe zum Ausdruck gebrachte Beziehungsereignis – auch ohne entsprechende religi{\"o}se Sozialisation und kunsthistorische Vorkenntnisse – unmittelbar erschlie{\"s}en kann. Die Piet{\`a} als Darstellung der Begegnung zwischen zwei Menschen in einer existentiellen Situation und damit gleichsam einer zentralen kol- lektiven Ur-Erfahrung der Menschen bietet offensichtlich ein kultur{\"u}bergreifendes archetypi- sches Vorstellungmuster, das im Betrachter, je nach pers{\"o}nlichem Kontext, in individueller Weise etwas ausl{\"o}st und zum Klingen bringt. Bild und Betrachter begegnen sich; der Betrachter wird hineingenommen in das Begegnungs- ereignis, was eine intersubjektive Beziehung, einen (religi{\"o}s-) affektiven Dialog erm{\"o}glicht. Das Schauen f{\"u}hrt dazu, dass sich Betrachtender und Piet{\`a} gleichsam austauschen und – dies gilt vor allem f{\"u}r die mittelalterliche Fr{\"o}mmigkeit –371 „[d]as Leiden der Mutter Jesu und das Leiden der Betenden interagieren. Maria nimmt sich des Schmerzes der Betenden als heilige Vermittlerin an, die Betrachtenden partizipieren an der Trauer Marias“372 – Videte si est dolor sicut dolor meus. Die Faszination, die insbesondere von der schwarz-golden gestalteten Skulptur des Piet{\`a}-Pro- jekts ausgeht, mag auch daher r{\"u}hren, dass sie als archetypische Symbolgestalt der „Gro{\"s}en Mutter“ einl{\"a}dt, nicht zu versuchen, die Ambivalenzen unserer Existenz zwischen Leben und Tod, Anfang und Ende, Hell und Dunkel, „Schw{\"a}rze und Goldglanz“, einseitig durch Verdr{\"a}n- gung und Nichtwahrhabenwollen aufzul{\"o}sen, sondern lebenslang auf der Suche zu bleiben nach einer geistigen Heimat, nach Geborgenheit und einer geistlichen Verankerung, die es uns als verg{\"a}ngliche Wesen erm{\"o}glicht, die unaufhebbare Widerspr{\"u}chlichkeit des Lebens zu ertragen und Sinn zu erfahren. Die Piet{\`a} f{\"u}hrt in aller Deutlichkeit, ja geradezu drastisch, die dunklen Seiten des Lebens vor Augen, l{\"a}sst aber auch schon – goldschimmernd – Licht ahnen und Hoff- nung sch{\"o}pfen. Niemals geht man ganz ungetr{\"o}stet von ihr fort, was die niedergelegten Gebets- anliegen der Besucher und deren pers{\"o}nliche Reaktionen widerspiegeln! Jede Piet{\`a}-Darstellung ist nicht zu denken ohne den Blick auf den Anfang des Bezie- hungsereignisses zwischen Jesus und Maria, steht damit in Kontrastharmonie zur Madonna mit Kind und spiegelt so das Ausgespanntsein der menschlichen Existenz zwischen Anfang und Ende, Leben und Tod wider. Die Krippe steht immer schon im Schatten des Kreuzes. Das Piet{\`a}-Motiv thematisiert in exemplarischer Weise die fundamentale Frage, die dem Leiden- und Sterbenm{\"u}ssen desMenschen. Ist das Sterben, der Tod, ein Vorgang nackter und unausweichlicher Zerst{\"o}rung? Oder deutet sich in ihm ein {\"U}bergang in ein Gr{\"o}{\"s}eres an, das anders als vermittels der Spannung von Geborenwerden (Neuanfang) und Sterben gar nicht zu thematisieren ist? Maria h{\"a}lt die Leiche ihres Sohnes in dem Augenblick fest, in dem alle Hoffnung zu schwinden scheint und die J{\"u}nger geflohen sind, und sie tr{\"a}gt ihn gleichsam in dieser gro{\"s}en Einsamkeit und gef{\"u}hlter Ausweglosigkeit jener Geburt zum Leben entgegen, die Christen „Ostern“ nennen.}, language = {de} }